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Stichtag: Februar 1929 - Als der Rhein stillstand

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Im Januar 1929 trieben große Eisschollen vom Oberrhein und den Rheinnebenflüssen den Strom hinab. Nach anhaltendem Frost hatte es einige Tage Tauwetter gegeben, wodurch die geschlossene Eisdecke aufriss und das Eis in großen Schollen der Mündung entgegenstrebte. Erneut einsetzender starker Frost Ende Januar brachte das Treibeis am unteren Niederrhein zum Stillstand. Die Strömung schob die nachfolgenden Eisschollen ineinander und türmte sie teilweise meterhoch auf. Der Stillstand setzte sich rasch flussaufwärts fort, so dass nach und nach der ganze Rhein von Eis bedeckt war.

Die anhaltende Kälte - das Thermometer sank im Februar auf bis zu minus 20 Grad - ließ das Wasser zwischen den Schollen gefrieren. Eine keineswegs glatte, sondern bizarr geformte Eisdecke entstand, die ab der zweiten Februarhälfte begehbar war. So war es möglich, trockenen Fußes über den Rhein von Wesel nach Büderich zu gehen. Es entstanden überall am Rhein Trampelpfade, sogenannte Rheinwege, durch das Eis, um den Fluss zu überqueren. In Wesel befanden sich zwei Wege, über den die Schaulustigen in beide Richtungen gingen, unterhalb der Rheinbaben- und oberhalb der Eisenbahnbrücke.

Der Eisgang zog Scharen von Menschen an, die sich dieses einmalige Erlebnis nicht entgehen lassen wollten und über den Rhein liefen. Die meisten waren sich darüber im Klaren, dass sie so eine Chance nur einmal im Leben haben würden. Viele ließen sich zur Erinnerung auf dem Eis fotografieren. Zahlreiche Fotos zeugen heute noch von der Gewalt des Flusses und zeigen vertraute Bilder mit einem unwirklichen Eispanzer. Der Eisgang ist vielen noch heute präsent, weil sie ihn selbst noch bewusst erlebt haben, als Kleinkind mit den Eltern auf dem Eis waren oder durch die eindrucksvollen Erzählungen der älteren Generation von diesem besonderen Ereignis gehört haben.

Im März 1929 setzte Tauwetter ein. Am Abend des 7. März brach die Eisdecke von Orsoy bis zur holländischen Grenze auf und der Fluss geriet in Bewegung. Es gab nicht das erwartete Hochwasser. Vielmehr schob der Rhein zahlreiche Schollen auf die Ufer, wo sie sich meterhoch aufgetürmt teilweise bis zum Juni hielten. Damit die in Bewegung geratenden Eismassen nicht die Brücken gefährdeten, führte in Wesel das Militär kontrollierte Sprengungen durch.

Einen solchen Eisgang hat es seither nicht mehr gegeben, was dieses Naturphänomen noch mehr hervorhebt. Die Gefahr eines starken Eisgangs mit Stillstand gab es letztmals 1963. Treibeis auf dem Rhein ist heute für die beiden jüngsten Generationen so fern, weil es das zu ihren Zeiten nicht mehr gegeben hat.

 

(Autor: Dr. Martin Wilhelm Roelen)