In der Nacht vom 23. auf den 24. März 1945 waren britische, amerikanische und kanadische Truppen bei Wesel, Dinslaken, Bislich und Rees über den Rhein gegangen. Die Überquerung des deutschen Schicksalsflusses durch alliierte Eliteeinheiten war nicht nur militärisch-strategisch, sondern auch symbolisch von großer Wichtigkeit. Das ist unter anderem an einer illustren Runde alliierter Militärs und Politiker ersichtlich, die ab dem 23. März 1945 zunächst in Venlo zusammentraf. Aus London kamen im Flugzeug Premierminister Winston Churchill, der Generalstabschef der britischen Armee Alan Francis Brooke und Commander Charles Thompson, der als Marineoffizier Churchills persönlicher Adjutant war.
Von Venlo fuhr die britische Entourage zunächst nach Walbeck an der deutsch-niederländischen Grenze ins Hauptquartier von Field Marshall Bernhard Montgomery, der Oberbefehlshaber der alliierten Bodentruppen in Europa war. Dort besuchten die britischen Offiziere am 25. März – Palmsonntag – einen Gottesdienst.
Danach fuhr die Gruppe in mehreren gepanzerten Wagen von Walbeck ins etwa dreißig Kilometer östlich gelegene Rheinberg ins Hauptquartier des 16. Amerikanischen Korps. Die britische Delegation traf dort auf die US-Generäle Dwight D. Eisenhower (Oberbefehlshaber der alliierten Streitkräfte in Nordwesteuropa) und Omar Bradley (Kommandeur der 12th Army Group). Nach Churchills eigenen Angaben hat Eisenhower ihm dabei von einem etwa 16 Kilometer entfernt in Büderich gelegenen Haus mit einem hervorragenden Ausblick auf die andere Rheinseite erzählt.
Mit angemessenen Sicherheitsvorkehrungen sind Churchill, Eisenhower und Montgomery in das Haus geführt worden. Auf dem Balkon – mit seiner ziselierten Inschrift „Wacht am Rhein“ – entstand eines der symbolträchtigsten Fotos des Zweiten Weltkrieges. Mit Fernglas und Zigarre blickte Churchill versonnen, aber auch mit einer gewissen Abenteurerromantik und großer Siegesgewissheit über den Fluss. Das seit 1888 in Familienbesitz sich befindende Hotel existiert noch; der berühmte Balkon wurde aber mittlerweile demontiert.
Eisenhower verließ nach den Fotoaufnahmen Büderich und brach zu einer weiteren Besprechung mit Bradley in Rheinberg auf. Churchill, der noch keine Lust zum Abfahren verspürte, schlug Montgomery vor, in einem kleinen Landungsboot überzusetzen und die andere Rheinseite zu erkunden. Wohl zu seiner eigenen Überraschung stimmte der Field Marshall zu und organisierte die Überfahrt. Mit anderen amerikanischen Kommandeuren und einem halben Dutzend bewaffneter Männer setzte Churchill bei herrlichem Sonnenschein über und hat – in seinen eigenen Worten – das andere Rheinufer in perfektem Frieden vorgefunden. Mittlerweile hatte wohl auch Montgomery die Abenteuerlust gepackt, denn er regte an, ob man nicht den Fluss gen Wesel runterfahren könne, um etwas mehr vom Kriegsgeschehen zu erleben. Dieser Vorschlag wurde abgelehnt, sodass Montgomery stattdessen gemeinsam mit Churchill und Brooke zur zerstörten Weseler Rheinbabenbrücke fuhr. Hier ist der Premierminister – so Brooke in seinem Tagebuch – auf den Resten der Brücke herumgeklettert. Als die deutsche Artillerie das Umfeld der Brücke unter Beschuss nahm, die Geschosse kaum hundert Meter entfernt einschlugen und im Rhein für heftige Fontänen sorgten, griffen die amerikanischen Offiziere letztlich doch durch und bewegten die hohen Besucher zum Abzug. Laut Brooke habe Churchill dabei geguckt wie ein kleiner Junge, der von seiner Sandburg am Strand weggezerrt werde. Der Premierminister beugte sich zwar den Mahnungen der Militärs, umarmte aber einen Brückenpfeiler mit Schmollmund und bösen Augen ein letztes Mal.
Am darauffolgenden 26. März erkundete die Gruppe um Churchill Xanten, von wo aus Churchill erneut den Rhein überquerte und am rechten Rheinufer – nördlich von Bislich – auch ein opulentes Frühstück genoss. Eine von Brooke wiedergegebene Szenerie unterstreicht deutlich die Bedeutung, die Churchill seiner Frontreise beigemessen haben muss. Noch vor dem Essen ist er ein ganzes Stück zum Ufer gewandert und hat sich dort feierlich in den Rhein erleichtert. Brooke hat zwar nur Churchills Rücken gesehen, war sich aber sicher, das jungenhafte Grinsen der Zufriedenheit auf dessen Gesicht geradezu gespürt zu haben. Brooke ließ sich sogar zu der Vermutung hinreißen, dass der Premierminister in diesem Moment des Triumphes den Heldentod an der Front nur zu gerne gestorben wäre. Von Bislich fuhr Churchill mit seiner Begleitung dann schlussendlich über Walbeck und Venlo nach London zurück.
Der Aufenthalt von Churchill und der Spitzen der westalliierten Streitkräfte in Wesel ist auch deshalb so gut nachvollziehbar, weil die wichtigsten Beteiligten den Tag in ihren Erinnerungen ausführlich beschreiben. Der Grundtenor der Autoren kann jedoch kaum unterschiedlicher sein. Alan Brooke interpretiert Churchills Ausflug als den eines exzentrischen älteren Herrn, der die um ihn besorgten britischen und amerikanischen Militärs das ein oder andere Mal in erhebliche Verlegenheit gebracht hätte. Eisenhower betont hingegen, dass Churchill in seiner Rheinüberquerung eine symbolische Handlung für die endgültige Niederlage des Feindes gesehen habe, die einen großen propagandistischen und damit auch indirekt einen strategischen Nutzen gehabt hätte. Letztlich war es wohl eine Kombination beider Faktoren. Churchill erkannte einerseits die Signalwirkung seiner Reise. Die Fotos gingen um die Welt und zeigten, dass der Rhein überquert worden war und Deutschland damit unmittelbar vor der Niederlage stand. Die kindliche Freude Churchills und das hohe persönliche Risiko sind aber wohl auch Ausdruck der Erleichterung, nach sechs Kriegsjahren den anfangs unbezwingbar erscheinenden Feind mit der symbolträchtigen Rheinüberquerung endgültig besiegt zu haben.
(Autor: Dr. Heiko Suhr)