Der im Juni 1919 unterzeichnete und zum 10. Januar 1920 in Kraft getretene Versailler Vertrag beendete rechtlich den Ersten Weltkrieg und enthielt in seinem dritten Teil politische Bestimmungen für das gesamte Nachkriegseuropa. Drei Artikel des dritten Abschnitts betreffen das linke Rheinufer, sollten sich aber auch auf die Garnisonsstadt Wesel auswirken. Zunächst war es der deutschen Regierung untersagt, auf dem linken Rheinufer sowie innerhalb eines fünfzig Kilometer breiten und rechtsrheinisch parallel zum Rhein verlaufenden Korridors Befestigungen zu unterhalten. In diesen Gebieten war es auch nicht gestattet, für Übungszwecke oder für Mobilmachungen ständig oder zeitweise deutsche Truppen zu konzentrieren. Der dritte Artikel sah vor, dass jede Zuwiderhandlung als feindselige Handlung sowie als Versuch einer Störung des Weltfriedens aufzufassen sei.
Diese Bestimmungen galt es auch in Wesel umzusetzen. Doch welche Truppen gab es überhaupt noch in der alten Hansestadt, der aufgrund ihrer besonderen Grenzlage am Rande der neutralen Zone eine besondere Rolle zukam. Das gerade gegründete Reichsamt für wirtschaftliche Demobilmachung hatte Ende November 1918 die Einsetzung eines Demobilmachungsausschusses unter Leitung von Bürgermeister Poppelbaum auch für Wesel bestimmt. Nach der Rückkehr von der Westfront wurden die beiden Weseler Infanterie-Regimenter 56 und 57 aber noch in Bielefeld demobilisiert. So wurden die älteren Jahrgänge entlassen; aus den jüngeren Jahrgängen bildeten sich drei neue Bataillone, die im Januar und Februar 1919 nach Wesel verlegt wurden. Dieser junge Ersatz wurde im Frühjahr 1919 in der Weseler Garnison ausgebildet und als Sicherungstruppe verwendet. So kamen Truppen des 57er Regiments u.a. in Hamborn zum Einsatz. Im April 1919 verfügte dann das Wehrkreiskommando VI die Umwandlung der bisherigen Infanterie-Regimenter 56 und 57 in ein neues Freikorps Wesel, dem bald etwa 1.300 Mann angehören sollten. Kurz vor Jahresende 1919 wurde die Formation erneut umstrukturiert und in das Reichswehr-Infanterie-Regiment 62 überführt. Dies geschah im Zuge des Überganges – zwischen dem 1. Oktober 1919 und 1. April 1920 – von der sogenannten Vorläufigen Reichswehr in ein 200.000 Mann starkes Übergangsheer. Diese Weseler Truppen nahmen u.a. teil an den äußerst verlustreichen Märzunruhen im Raum Wesel-Dinslaken im März 1920 in Folge des Kapp-Lüttwitz-Putsches.
Am 21. September 1920 verließen die letzten Truppen die Stadt auch formell, wogegen sich Bürgermeister Poppelbaum in mehreren Initiativen direkt in Berlin erfolglos vehement zur Wehr gesetzt hatte. Der Abschied vollzog sich vor den Spitzen der militärischen und bürgerlichen Honoratioren sowie unter reger Anteilnahme der Weseler Bevölkerung in Form einer großen Parade. Noch einmal versammelten sich über 1.500 Soldaten auf der Esplanade, wo Poppelbaum nachdrücklich auf das „Band der Freundschaft“ zwischen militärischer und ziviler Ebene in Wesel verwies. Trotz Niederlage, Revolution und „unermesslichem alliierten Druck“ wollte der Bürgermeister sich die Hoffnung auf „Deutschlands Zukunft“ aber nicht nehmen lassen und schloss seine Ansprache mit einem Loblied auf „unser geliebtes deutsches Vaterland“. Das gemeinsame Absingen der inoffiziellen kaiserlichen Nationalhymne „Wacht am Rhein“ schloss die Feierlichkeiten; die Truppen verließen die Esplanade und marschierten über den Hansaring und den Willibrordiplatz zum Großen Markt. Die konservativ-katholische Tageszeitung Niederrheinische Neueste Nachrichten – als Presseorgan der Zentrumspartei – meldete pathetisch: „Unsere Stadt, die mehr als 100 Jahre ununterbrochen Soldatenstadt war, die eng verbunden Freuden und Leiden in Krieg und Frieden mit der Garnison teilte, sie soll – in Ausführung des Friedensvertrages, der verlangt, dass bis zum 1. Oktober die neutrale Zone geräumt ist – nunmehr auf sie verzichten.“
Der besondere Duktus von Militärs, Stadtverwaltung und Presse klingt einhundert Jahre später äußerst befremdlich. Die darin zum Ausdruck kommende Geisteshaltung ist symptomatisch für die alten Eliten des deutschen Kaiserreichs und damit sowohl eine der Wurzeln für die großen Probleme der jungen Weimarer Demokratie als auch ein Vorbote für die noch über ein Jahrzehnt entfernt liegende Zeit des Nationalsozialismus.
Im weiteren Verlauf wurde zum 1. Januar 1921 die Reichswehr formiert, die nach den Versailler Bestimmungen ein 100.000 Mann-Heer zu sein hatte. Zum 1. Oktober 1920 wurden so die Reste der ehemaligen Weseler Infanterie-Regimenter 56 und 57 in Bielefeld endgültig aufgelöst. Die Truppen wurden in das neu geschaffene 17. preußisch-braunschweigische Infanterie-Regiment in Goslar überführt und bildeten dort je eine Kompanie des Jäger-Bataillons.
Wesel war seit Ende Oktober 1920 endgültig keine Garnisonsstadt mehr, was einerseits große Probleme rund um die Besitzverhältnisse militärischer Gebäude und Grundstücke mit sich brachte. So hatte die Weseler Stadtverwaltung schon vor dem Ersten Weltkrieg mit der Heeresverwaltung einen Vertrag über die Errichtung für zwei Kaserne abgeschlossen. Dieser Vertrag wurde 1919 formell aufgehoben; die sich schon im Bau befindliche Kaserne für eine Maschinengewehr-Kompanie ging 1921 in den Besitz der Stadt über. In den Folgejahren bekam die Stadt auch das Denkmal für die Schillschen Offiziere und das Schillmuseum überschrieben. Gravierender als die städtebaulichen Probleme waren aber andererseits die durch den Abzug der Garnison offen zu Tage tretenden wirtschaftlichen Probleme, da die abhängigen Zulieferbetriebe (Sattler, Schmiede, Gastwirtschaften, etc.) ihre Existenzgrundlage verloren, was zu einem deutlich spürbaren Kaufkraftverlust und zum zwischenzeitlichen wirtschaftlichen Niedergang der Stadt Wesel führte.
(Autor: Dr. Heiko Suhr)