Die Stadt Wesel hat eine lange und traditionsreiche Musikgeschichte. Dies gilt besonders für die Orgeln im Willibrordi-Dom. Kirchenrechnungen belegen die Existenz einer Orgel schon im 15. Jahrhundert, so wurde 1439 eine neue Bemalung durch den Stadtrat angeordnet oder 1460 ein Zugband ersetzt. Das erste namhaft zu machende Instrument ist dann das des Johann Heinrich Bader von 1645. Die Bader-Orgel sollte über zweihundert Jahre bestehen. Erst 1892 wurde der königliche Hoforgelbaumeister Wilhelm Sauer aus Frankfurt an der Oder mit dem Bau eines neuen Instruments beauftragt. 1895 fand die feierliche Abnahme statt, an der auch die Kaiserin und Prinz Heinrich teilgenommen haben. Da Wesel damals zweifelsfrei zu den wohlhabendsten Gemeinden der Region zählte, wurden für den Neubau nur die kostbarsten Materialien verwendet. Die Orgel gilt als Klangideal der Jahrhundertwende und darf als bedeutendster Orgelneubau der Region im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts gelten.
Durch die alliierten Bombenangriffe 1945 auf Wesel wurde auch der Willibrordi-Dom mit seiner Sauer-Orgel zerstört. Schon 1947 wurde für den Wiederaufbau der Dombauverein gegründet und schon in den ersten Plänen von 1951 war bereits ein Orgelneubau vorgesehen. Aber erst sieben Jahre später regte die seit 1952 für die denkmalpflegerische Beratung des Doms zuständige Landesbaudirektorin Trude Cornelius an, die neue Orgel in der Mittelachse und zwar im hinteren Chorraum aufzubauen. Mit der Umsetzung wurde im November 1959 die renommierte Orgelbaufirma E. F. Walcker & Cie in Ludwigsburg beauftragt. Diese entwarf ein Instrument in Form einer schlanken und hohen Turmorgel, wobei das Rückpositiv einige Meter vor und die großen Pedalpfeifen an der Rückwand angebracht werden konnten. Eingeweiht wurde die neue Orgel am 21. Juni 1964 mit einem feierlichen Gottesdienst. Vier Tage später fand ein erstes Konzert mit Werken von Bach statt.
Der Namensgeber der neuen Orgel ist eng mit der musikalischen Entwicklung Wesels verbunden. Karl Straube wurde am 6. Januar 1873 in Berlin als Sohn eines Organisten geboren und so wurde ihm die Musik quasi in die Wiege gelegt. Ab 1888 war er Schüler des bekannten Musikwissenschaftlers und Organisten Heinrich Reimann und wurde dann, ausgewählt aus zahlreichen Bewerbern, ab Mai 1897 Organist im Weseler Willibrordi-Dom. Auf der Sauer-Orgel reifte Straube schnell zu einem der ersten deutschen Orgelmeister heran. Sein völliges Aufgehen in der Musik wird auch daran deutlich, dass er in Wesel den Kirchenchor geleitet und Unterricht am Gymnasium erteilt hat. Besonders hervor trat Straube aber durch die Uraufführung einiger Werke, vor allem Choralphantasien, von Max Reger, dem er auch als Freund sehr nahestand.
Aufgrund seiner herausragenden Stellung innerhalb der deutschen Musiklandschaft konnte Wesel Karl Straube auf Dauer nicht an sich binden. 1902 bewarb er sich auf die freigewordene Stelle an der Leipziger Thomaskirche und trat schließlich im Januar 1903 sein neues Amt dort an. 1908 wurde Straube der Professorentitel verliehen, 1918 wurde er der elfte Nachfolger von Johann Sebastian Bach als Thomaskantor. Am 27. April 1950 verstarb Karl Straube nach einem wirkungsreichen Leben für die Musik als einer der einflussreichsten Orgellehrer des Jahrhunderts in Leipzig.
Die nach Straube benannte Orgel im Willibrordi-Dom war aufgrund des hohen Bedarfs an neuen Instrumenten nach dem Weltkrieg mit neuartigen, teils noch experimentellen Techniken und Materialien erbaut worden. Daher machten sich schon seit Ende der 1970er Jahre Verschmutzung und Verschleiß deutlich bemerkbar. Die von Anfang an schwere und träge Spielmechanik hatte man, um den Tastendruck niedrig zu halten, durch den Einbau sogenannter „Balanciers“ zu umgehen versucht. Diese Technik funktionierte aber nur kurzfristig und erschwerte das Orgelspiel schließlich viel mehr als dass es erleichtert wurde. Ein Gutachten eines Orgelsachverständigen der evangelischen Kirche im Rheinland kam 1991 zu dem Ergebnis, dass aufgrund der schlechten Konstruktion und der verwendeten Materialien von minderer Qualität Schwerpunkte der Orgelliteratur nicht mehr adäquat darzustellen seien und dass die Orgel klangliche Schwächen und Lücken in Gottesdienst und Konzert aufweise. Die Karl-Straube-Orgel genüge den „hohen kirchenmusikalischen Ansprüchen dieses Gotteshauses“ nicht mehr und ein Neubau sei daher dringend angezeigt.
Nach langen Verhandlungen um die äußerst kontrovers diskutierte Frage der Finanzierung kam es erst am 29. Oktober 2000 zur feierlichen Einweihung einer neuen Orgel im Willibrordi-Dom zu Wesel. Auf einen festlichen Gottesdienst folgte ein Konzert der weithin bekannten Kirchenmusikerin Almut Rößler mit drei Werken von Bach. Bis heute wird die Orgel regelmäßig im Zweijahres-Turnus gewartet, wozu der Orgelbauer Halfdan Oussoren extra aus Dänemark anreist. So kann die reiche Weseler Musiktradition u.a. durch Konzerte auch für künftige Generationen lebendig gehalten werden.
(Autor: Dr. Heiko Suhr)