Die Stadt Wesel wurde über Jahrhunderte stark vom Militär geprägt. Das Ende des Ersten Weltkrieges war auch aus dieser Perspektive eine wichtige Zäsur. Die Festung hatte zwar schon um 1880 deutlich an Bedeutung verloren, sodass 1886 die Aufgabe der Stadtbefestigung beschlossen wurde und 1890 die Stadt den größten Teil dieser Anlagen aufkaufen konnte. Der Beginn des Krieges 1914 brachte aber eine Wiedererstarkung des Militärs in Wesel mit zumindest kurzfristig deutlich spürbaren Auswirkungen auch auf die Wirtschaftskraft der Stadt.
Nach dem Waffenstillstand von Compiègne im November 1918 und der Demobilmachung kehrten nur die noch zurückgehaltenen jüngsten Jahrgänge der Infanterie-Regimenter 56 und 57 Anfang Januar 1919 nach Wesel zurück und nahmen im Umkreis Sicherungsaufgaben wahr. Aus diesen unerfahrenen Truppen entstand im April 1919 das etwa 1.300 Mann starke Freikorps Wesel, aus dem wiederum Ende 1919 das Reichswehr-Infanterie-Regiment 62 gebildet wurde. Das Regiment nahm im März 1920 an den blutigen Kämpfen gegen die Rote Ruhrarmee teil. Mit dem Abzug des Regiments ab dem 21. September 1920 war Wesel de facto keine Garnisonsstadt mehr. Die mit der Heeresverwaltung abgeschlossenen Verträge zum Bau und zur Vermietung von Kasernen und anderen Militärgebäuden wurden aufgehoben und die Gebäude zwischen 1921 und 1923 an die Stadt zurückgegeben. Formell gesehen blieb Wesel aber nach wie vor Festungsstadt.
Völkerrechtlich endete der Erste Weltkrieg erst mit dem Inkrafttreten des Versailler Vertrages am 10. Januar 1920. In Deutschland war dieser Vertrag am 22. Juni 1919 von der Nationalversammlung unter extremem äußeren Druck – drohender Einmarsch alliierter Truppen und immer noch bestehende britische Seeblockade mit der befürchteten Konsequenz einer Hungersnot – ratifiziert worden. Für die Stadt Wesel war vor allem Artikel 180 von Interesse, der vorsah, alle befestigten Anlagen, Festungen und festen Plätze zu schleifen – also abtragen, einebnen, sprengen oder niederreißen –, die innerhalb eines fünfzig Kilometer breiten Streifens rechts des Rheins lagen.
Die Umsetzung dieser Bestimmungen in Rechtsnormen lag nicht in der Hoheit der Stadt Wesel, sondern war staatliche Aufgabe. Und diese Umsetzung wurde verzögert durch kontroverse innenpolitische Debatten, außenpolitisches Ränkespiel und letztlich auch durch mehrere kriegerische Ereignisse wie während und nach dem Kapp-Putsch ab März 1920. Im September 1922 sahen sich die Alliierten daher zu einer Kollektivnote veranlasst, um auf die legislative und administrative Umsetzung der Versailler Bestimmungen zu drängen.
Zu einer neuen Situation kam es, als im Januar 1923 belgische und französische Truppen zur Sicherung der Reparationszahlungen das Ruhrgebiet besetzten. Die Reichsregierung rief zum passiven Widerstand auf. Am 13. Februar besetzte belgische Infanterie den Hafen und das Hauptzollamt in Wesel. In der Folge wurde die Stadt komplett vom Ruhrgebiet abgeschnitten, was verheerende wirtschaftliche Folgen hatte. Durch die Abwanderung vieler Firmen und durch eine erhebliche Arbeitslosigkeit kam es in Wesel zu einer regelrechten De-Industrialisierung. Für die Stadt brachen schwere Zeiten an, geprägt von finanzieller Not und Niedergang. Die letzten belgischen Besatzungstruppen verließen Wesel erst am 21. Oktober 1924.
Noch während der Besatzungszeit wurde deutscherseits endlich eine formaljuristische Regelung der Festungsfrage auf den Weg gebracht durch ein am 25. August 1924 im Reichstag mit Zustimmung des Reichsrates erlassenes, von Reichspräsident Ebert und Reichsminister des Äußeren Stresemann unterzeichnetes und im Reichsgesetzblatt veröffentlichtes Gesetz. Das „Gesetz, betreffend das Eingehen deutscher Festungen“ bestimmte – mit Wirkung zum 16. September 1924 – im ersten Paragraph das Ende der Festungen in Wesel, Köln, Koblenz, Mainz und Germersheim sowie das der rechtsrheinischen Befestigungen von Straßburg, der Oberrheinbefestigungen sowie der Festungen Friedrichsort-Kiel und Helgoland. Der zweite Paragraph regelte den Wegfall der Rayonbeschränkungen, die bisher eine Bebauung innerhalb eines bestimmten Abstandes von den Festungen vollständig oder teilweise unterbunden hatten, was gerade in Wesel die wirtschaftliche bzw. industrielle Entwicklung außerordentlich hemmte. Der genaue Termin des Wegfalls dieses Störfaktors städtischer Entwicklung sollte – so der zweite Paragraph weiter – in Absprache zwischen der Reichsregierung und dem Festungsort getroffen werden.
In Wesel – wie auch u.a. in Köln und Mainz – wurden dann die Rayonbeschränkungen durch eine Verordnung zum 7. Mai 1925 aufgehoben. Damit endete auch de jure die über sieben Jahrhunderte währende Festungsgeschichte der Stadt Wesel. Noch heute erinnern die Zitadelle der historischen Festung – u.a. mit dem Stadtarchiv – und auch das Berliner Tor als ehemaliges Festungstor an diese reiche Tradition.
(Autor: Dr. Heiko Suhr)