Das Gedenken an Flucht und Vertreibung ist in Deutschland nach wie vor ein kontrovers diskutiertes Thema. Breite Öffentlichkeit bekam es vor allem wieder durch die Eröffnung des „Dokumentationszentrums Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ am 23. Juni 2021. Mitten in Berlin entsteht ein Lern- und Erinnerungsort zu Flucht, Vertreibung und Zwangsmigration sowohl in der Geschichte als auch in der Gegenwart. Dort soll besonders die Erinnerung an Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert im historischen Zusammenhang des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik und ihrer Folgen wachgehalten werden.
Diese Themen sind auch in Wesel schon gut zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges in der Verwaltung und vor allem in der Bevölkerung lebhaft besprochen worden. Das lag an den seit Kriegsende in Wesel eingetroffenen Flüchtlingen und Vertriebenen sowie am schon im Dezember 1952 in der Reitzensteinkaserne eingerichteten Hauptdurchgangslager für Flüchtlinge aus der DDR, in dem Flüchtlinge aus den Notaufnahmelagern West-Berlin (Marienfelde), Uelzen-Bohldamm und Gießen unterkommen konnten. Das auf 400 Personen ausgelegte Lager war schon bald zu klein, sodass das Land Nordrhein-Westfalen auf der Esplanade westlich der Kreuzstraße ab 1958 eine große Flüchtlingssiedlung konzipierte. Hier entstanden vor allem an der neu angelegten Gerhart-Hauptmann-Straße insgesamt 160 Wohnungen, die bis Mitte 1963 für Flüchtlinge aus dem Osten genutzt wurden. Einige dieser Personen blieben auch nach dem Aufenthalt im Durchgangslager in Wesel und versuchten hier, eine neue Heimat zu finden.
Um die Integration der neu Zugezogenen zu verbessern, bemühte sich die Stadt Wesel um einen regen Austausch. Im Zuge der 1956 vereinbarten Patenschaft der Stadt für die ehemaligen Rastenburger waren nicht nur finanzielle und ideelle Förderungsmaßnahmen vereinbart worden, sondern bewusst auch das Wahren des Andenkens an die verlorene Heimat und die Erinnerung an das Schicksal der aus den ehemaligen Ostgebieten geflohenen Menschen.
Aktuell wurde das Thema wieder im Frühjahr 1966 im Rahmen der Feierlichkeiten zum 725. Stadtjubiläum. Zunächst sah der Plan vor, in Analogie zur Berliner Mauer eine etwa 3,90 Meter breite und 1,60 Meter hohe Mauer zu errichten mit Stadtwappen (ehemaliger) mittel- und ostdeutscher Städte. Bürgermeister Kräcker konterte diese Planungen damit, dass die Stadt Wesel zwar etwas „Anständiges“ schaffen wolle, es aber doch nicht gleich ein neues „Völkerschlacht-Denkmal“ werden müsse. Man einigte sich schließlich auf einen schlichten Gedenkstein mit einer Plakette.
Stadtdirektor Karl-Heinz Reuber suchte dann kurzfristig gemeinsam mit Stadtbauoberinspektor Neu und dem Naturschutzbeauftragten des Kreises Rees, Amtsdirektor a.D. Kiel, den gesamten Höhenzug zwischen Dämmerwald und Weselerwald nach einem geeigneten Stein ab. Die Wahl fiel schließlich für einen auf dem Rücken eiszeitlicher Gletscher aus Skandinavien an den Niederrhein gekommen Stein, den man in einem Straßengraben nahe dem Bohnekampshof entdeckt hatte. Der Besitzer des Hofes überließ den Findling der Stadt unter der Bedingung, dass ein Hinweis auf die Herkunft angebracht werde. Die Naturschutzbehörde stellte dann die Erlaubnis zum Abtransport aus, verlangte aber, dass der Stein nicht behauen werden dürfe. Somit musste ein Betonfundament gegossen und die bronzene Hinweistafel vor dem Stein auf einem Betonsockel aufgestellt werden.
Das Mahn- und Erinnerungsmal sollte anlässlich der zehnjährigen Städtepartnerschaft zwischen Wesel und Rastenburg und des 725. Weseler Stadtjubiläums eingeweiht werden. Bis zum 14. Juli 1966 konnte aber nur der Stein mit einem Kranwagen der Firma Landers vor dem Bahnhof gegenüber dem Hotel Kaiserhof aufgestellt werden. Die Gedenktafel wurde später montiert und erinnert an die Städte Rastenburg (die Weseler Partnerstadt Kętrzyn in Polen), Königsberg (Kaliningrad/Russland), Stettin (Szczecin/Polen), Dresden und Breslau (Wrocław/Polen). Warum man gerade außer der Patenstadt Rastenburg diese vier Städte ausgewählt hat, ließ sich nicht ermitteln. Später wurde der Findling an seinen endgültigen Standort am Vorplatz des Bahnhofes – in der Nähe des schon 1955 eingeweihten Mahnmals für die Vermissten und Gefangenen am Ölberg – versetzt.
Eine offizielle Feierstunde zur Enthüllung – vom Kreisverband Rees-Wesel des Bundes der Vertriebenen gewünscht – sollte zunächst am sogenannten „Tag der Heimat“ im September 1966 stattfinden. Da zeitgleich das beliebte Schützenfest in Wesel gefeiert wurde, musste dieser Termin gestrichen werden. Eine Zeremonie während der Feierlichkeiten zum Stadtjubiläum im Oktober 1966 kam dann auch nicht in Frage, da zu diesem Zeitpunkt die starkbefahrene Straße vor dem Mahnmal nicht gesperrt werden konnte. So blieb letztlich nur eine formlose Einweihung während des offiziellen Festaktes am 15. Oktober 1966 im Bühnenhaus.
Die insgesamt recht unkritische und kaum in den historischen Kontext des gesamten 20. Jahrhunderts eingeordnete Aufstellung des Mahn- und Erinnerungsmals entspricht dem damaligen Zeitgeist, wäre aber gut fünf Jahrzehnte später so nicht mehr möglich. Der Anspruch der Stadt Wesel ist längst, die Themen Flucht, Vertreibung und Zwangsmigration nur im Rahmen einer gesamteuropäischen multiperspektivischen und differenzierten Erinnerungskultur aufzugreifen.
(Autor: Dr. Heiko Suhr)