Zu den Attraktionen der Einkaufsstadt Wesel gehörte vor dem Zweiten Weltkrieg das Textilkaufhaus Leyens & Levenbach. Der Begründer des Hauses, Hermann Leyens, hatte zusammen mit seiner Frau Sara Levenbach drei Söhne und zwei Töchter. Der dritte Sohn, Erich, wurde am 13. Januar 1898 in Wesel geboren. Erich besuchte die jüdische Volksschule und anschließend das Gymnasium seiner Heimatstadt, das er 1913 verließ. Im Jahr darauf meldete er sich wie seine beiden Brüder auch beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs als Kriegsfreiwilliger. Er diente zusammen mit vielen Weselanern in einem der Weseler Regimenter, dem Feldartillerie-Regiment 43. Als Artilleriebeobachter überlebte er den Abschuss seines Ballons für damalige Verhältnisse spektakulär mittels Fallschirmabsprung. Mit dem Eisernen Kreuz Erster Klasse dekoriert kehrte er, wie seine Brüder auch, aus dem Krieg zurück, um fortan als Textilkaufmann im väterlichen Geschäft zu arbeiten.
Nach dem Tod des Vaters am 13. April 1930 übernahm er das am Großen Markt gelegene Kaufhaus und baute es weiter aus. Für den erfolgreichen, umtriebigen und innovativen Kaufmann änderte sich die Situation grundlegend, als die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 an die Macht kamen. Am 1. April 1933 boykottierte die SA reichsweit jüdische Geschäfte. Erich Leyens reagierte auf seine Art; er entwarf ein Flugblatt, ließ es über Nacht drucken und verteilte es am nächsten Tag in seiner alten Felduniform samt Eisernes Kreuz Erster Klasse und gelbem „Judenfleck“ vor seinem Geschäft. Im Flugblatt wurde auf Hitlers Aussage zu den Frontsoldaten „Wer im 3. Reich einen Frontsoldaten beleidigt, wird mit Zuchthaus bestraft!“ Bezug genommen und darauf hingewiesen, dass die drei Leyensbrüder als Kriegsfreiwillige teilgenommen hatten, verwundet und auch ausgezeichnet worden waren. Es gab einen enormen Menschenauflauf, viele Sympathiebekundungen, erregte Diskussionen und aktive Boykottverweigerer. Die SA rückte vorzeitig wieder ab. Tags darauf berichteten alle drei Weseler Zeitungen positiv über Leyens Aktion. Der Zuspruch täuschte jedoch nicht darüber hinweg, dass sich die Situation für jüdische Geschäftsleute zunehmend verschlechterte. Es gab einen Übergriff der SA, verleumderische Prozesse und Arisierungsangebote. Erich Leyens sah ein, dass es keinen Zweck hatte, weiterzumachen. Er verkaufte 1934 das Geschäft und ging nach Mailand, wo er in einem Unternehmen arbeitete. Er behielt seinen deutschen Wohnsitz und reiste bis 1937 auch nach Deutschland, so nach Berlin und Wesel. Nach der Pogromnacht im November 1938 verließ seine Familie Deutschland. Sein Bruder Walter, ein Arzt, ging in die Vereinigten Staaten und seine Mutter zu ihrer jüngsten Tochter in die Niederlande. Sein anderer Bruder lebte in Chile, eine Schwester in London. Erich Leyens selbst verließ aufgrund sich ändernder politischer Verhältnisse Italien. Er schlug sich mehr schlecht als recht in der Schweiz und in Kuba durch, bevor er 1942 auf Vermittlung seines Bruders in die USA einreisen konnte. 1946 nahm er seine Nichte Anna auf, einziges Kind seiner Schwester Leni Kohnke, die zusammen mit ihrem Mann und ihrer Mutter 1943 in die Vergasung deportiert worden waren. Anna wuchs später bei ihrer Tante Grete auf.
In New York kam Leyens nach harten Jahren wieder zu Wohlstand. Nachdem er sich zur Ruhe gesetzt hatte, konnte er sich eine zweite Residenz in Florida leisten, wo er den Winter überlebte. Er, der von sich selbst sagt „ich war ein verdammt guter Deutscher“, kehrte im Alter zurück nach Deutschland, wo er sich in Konstanz eine dritte Residenz nahm. Dort verbrachte er seither den größeren Teil des Jahres.
Erich Leyens war zeitlebens ein umtriebiger Mensch, hochintelligent, ausgesprochen sozial und vielseitig interessiert. Er war ein scharfsinniger Beobachter, liebte die Kunst und die deutsche Literatur, beteiligte sich schon früh am interreligiösen Diskurs und pflegte bis zuletzt zahlreiche Freundschaften. Am 1. Oktober 2001 starb Erich Leyens in Konstanz, stets rüstig und geistig frisch, im Alter von 103 Jahren.
Im Herzen Wesels wurde nach seiner Familie ein Platz ohne postalische Relevanz benannt.
(Autor: Dr. Martin Wilhelm Roelen)