Die Reformation ist in Wesel auch ohne herzoglich-klevisches Einverständnis mit Nachdruck eingeführt worden. Bereits Ende März 1540 – am Ostersonntag – wurde in der Willibrordikirche erstmals das Abendmahl in evangelischer Gestalt gefeiert. Die Weseler Stadtvertretung hat ebenso von Anfang an versucht, die Reformation in ihrem Sinn voranzutreiben.
Durch die Integration der niederländischen Flüchtlinge ab 1567 und die dadurch bedingte Teilnahme der Weseler Prediger an den niederländischen Kirchengremien wandten sich die Stadtkirche sowie große Teile des Magistrats und der Bevölkerung dem Calvinismus zu. Der Heidelberger Katechismus – als am weitesten verbreiteter Katechismus der reformierten Kirche – verdrängte 1575 an den Schulen Luthers Katechismus. Die durchaus streitbaren Lutheraner gerieten in die Minderheit und verloren zunehmend an Einfluss. Die Stadt Wesel kann daher ab etwa 1580 als reformiert angesehen werden.
Die formelle Einheit der Kirche endete 1602 mit der Gründung einer lutherischen Gemeinde. Zu den Gründern gehörte der Stadtschreiber und Notar Johannes Neger. Heinrich von Weseken – wie Neger auch Gemeindevorsteher – berichtet in seiner Chronik, er sei mit Neger am 3. November 1603 auf dem Landtag zu Essen gewesen, um dort um ein „öffentlich exercitium religionis“ zu erwirken, also das Recht auf freie Religionsausübung. Begründet wurde die Eigenständigkeit mit der Abschaffung des lutherischen Katechismus. Zudem gab es in der Stadt seit 1601 nur noch reformierte Prediger. Neger weilte außerdem 1608 in Köln, um dort über einen neuen Prediger für die lutherische Gemeinde zu verhandeln. Damit muss er erfolgreich gewesen sein, denn der von der Gemeinde gewünschte Johannes Hesselbein trat zum 2. März 1608 seinen Dienst in Wesel an. Neger ist es auch zu verdanken, dass seine Gemeinde im November 1608 ein Grundstück in der Beguinenstraße erwerben konnte, wo noch im selben Monat erstmals gepredigt werden konnte. Neger verstarb schließlich am 27. Dezember 1624 als eine der einflussreichsten Personen der lutherischen Gemeinde.
Im Evangelischen Kirchenarchiv – formell seit dem 1. Januar 2022 als Leihgabe im Stadtarchiv Wesel gelagert – ist eine Akte überliefert, die eindringlich die innerlutherischen Streitigkeiten zwei Jahrzehnte nach Gemeindegründung offenlegt. Unter dem Titel „Gravamina der Gemeinde unverenderter augspurgschen Confession in Wesell“ schrieben am 13. Februar 1622 16 Gemeindemitglieder an ihre Oberen einen langen Brief, der verschiedene Beschwerden und Vorwürfe („Gravamina“) beinhaltet. Johannes Neger hat das Schreiben auf den Tisch bekommen und zunächst intern kommentiert. Dabei sind saloppe Anmerkungen, u.a. „ist lauter Kinderwerk“, nicht selten. In einer „Summarischen Beantwortung der Beschwerniß Puncten“ vom 1. März 1622 nahmen die Gemeindevertreter schließlich offiziell Stellung, wiesen dabei aber jede Kritik weit von sich.
Zunächst forderten die Beschwerdeführer, dass zumindest acht Vorsteher über die Geschicke der Gemeinde bestimmen sollten, also weit mehr als es bis dahin praktiziert worden war. So waren 1606 neben Weseken und Neger auch Herman von Bellinckhaven und Henrich Kobuchomb im Amt. Neger merkte handschriftlich an, dass diese Forderung völlig unverhältnismäßig sei, da man für 24 Schafe auch keine acht Hirten benötige. Dasselbe Argument floss schließlich auch in die offizielle Antwort ein mit dem Hinweis, dass bei derart vielen Vorstehern die anderen Konfessionen spotten würden.
Der zweite Vorwurf betraf die vermeintlich schlechte Armenfürsorge der lutherischen Gemeinde. Neger monierte, dass jeder freiwillig mehr tun könne, dass aber „Querulanten“ meist am wenigsten täten. Im offiziellen Schreiben wurde der Sachverhalt wesentlich sachlicher dargestellt. Nach einer Prüfung durch zwei Gemeindevorsteher seien auch unter den Armen keinerlei Probleme geäußert worden. Auch dieser Kritikpunkt sei damit nichtig.
Drittens warf man Johannes Neger vor, er würde das Siegel der Gemeinde missbrauchen und ohne Rücksprache mit dem Vorsteherkollegium eigenmächtig die Korrespondenz der Gemeinde besiegeln. Neger verwies intern darauf, dass er als Schreiber natürlich alle ausgehende Korrespondenz bearbeite. Offiziell ließen die Vorsteher verlauten, dass Neger nie ohne Wissen und Zustimmung der Gemeinde gesiegelt habe.
Der vierte und wohl gewichtigste Vorwurf war der einer Veruntreuung von Geldern. Es fehle die „klare und rechtmeßige Rechnung“ der Kollekten. Auch diesen Vorwurf wiesen die Vorsteher weit von sich und führten in ihrem Antwortschreiben aus, dass Neger zudem mit Sebastian Hornung – einem Prediger aus Kleve – vom 23. August 1617 bis 12. Dezember 1618 zur „Einbringung einer milten Steuwr“ permanent auf Reisen gewesen sei.
Die deutlich vorgetragene Kritik, die zudem von einem durchaus großen Teil der Gemeinde unterzeichnet wurde, ist somit Ausdruck der Krise, in der sich die Gemeinde schon im dritten Jahrzehnt ihres Bestehens befand. Das Antwortschreiben endet pathetisch damit, dass die Beschwerde „nit geringe Bekummerniß“ ausgelöst habe und man sich frage, wie „ein unschuldig Hertz solchen schweren Verdacht verschmertzen“ könne.
Insgesamt bemühte sich der Weseler Magistrat von Anfang an, das lutherische Gemeindeleben zu unterbinden. Ab 1632 konnten nur noch Reformierte das Weseler Bürgerrecht erwerben. Mit der Verweigerung des Bürgerrechts wurden das Wahlrecht und der Zugang zu den Zünften verweigert. Erst 1681 reagierte die Stadt mit der Schaffung eines Kleinbürgerrechts, welches auch den Lutheranern und Katholiken offenstand. Ein Wahlrecht war damit allerdings nicht verbunden.
Diese Einschränkungen konnten das Wachstum der lutherischen Gemeinde nicht stoppen. Ab dem späten 17. Jahrhundert stieg die Zahl der Mitglieder vor allem aufgrund der vielen in Wesel stationierten preußischen Soldaten erheblich an, während die der Reformierten sank. 1812 hatten beide Konfessionen etwa gleich viele Mitglieder. Die lutherische Gemeinde vereinigte sich schließlich am 1. Januar 1818 mit der reformierten Gemeinde zur evangelischen Gemeinde Wesel.
(Autor: Dr. Heiko Suhr)