Im späten 14. Jahrhundert entstand in den Niederlanden eine neue Frömmigkeitsbewegung, Devotio Moderna genannt, die eine praktische Frömmigkeit vertrat und eine Rückbesinnung auf die Urkirche betrieb. Sie hatte binnen weniger Jahrzehnte auch zahlreiche Anhänger in Westfalen und im Rheinland, wo die aus dieser Bewegung hervorgegangenen Brüder und Schwestern vom gemeinsamen Leben einige Konvente gründeten. Diese lebten ohne Gelübde in Schwestern- oder Fraterhäusern. In Wesel wurde zuerst (1431) ein Schwesternhaus, Mariengarten, gestiftet. Fünf Jahre später, am 9. Oktober 1436, wurde von dem in Münster wirkenden Heinrich von Ahaus, der zuvor schon die Häuser in Münster und Köln gegründet hatte, ein weiteres, drittes, dem Hl. Martin geweihtes Fraterhaus eröffnet. Der Konvent lag in der Ritterstraße, in einem Haus, das der Münsteraner Fraterherr Johann van den Kolck von seiner Schwester Adelheid erhalten hatte. Diese und ihr verstorbener Ehemann Heinrich Wissinck, ein Weseler Ratsmitglied und verantwortlicher Rentmeister des klevischen Herzogs Adolf für den Bau des Kartäuserklosters auf der Grav-Insel, taten sich schon als Wohltäter für das Weseler Schwesternhaus hervor. Zum ersten Rektor bestimmte Heinrich den Münsteraner Fraterherrn Hermann von Werne, den er bereits 1431 als Beichtvater von Mariengarten eingesetzt hatte.
Die Anfänge waren bescheiden, doch selbst eine Katastrophe, die Pest von 1439, bei der alle Konventsmitglieder starben, konnte die Gründung nicht gefährden. Der Konvent hatte Zulauf und verstand es, sein Gelände an der Ritterstraße durch Ankäufe zu erweitern und darauf eine ansehnliche Klosteranlage zu errichten. Die Fraterherren verdienten ihren Lebensunterhalt durch Handarbeit; in Wesel betrieben sie neben der Hostienbäckerei eine Schreibstube nebst Buchbinderei, in der Handschriften geschrieben, illuminiert und gebunden wurden. Zwei für die Willibrordikirche geschriebene und noch erhaltene Handschriften zeugen von dieser umfassenden Tätigkeit.
Das Weseler Fraterhaus wandte sich nach 1540 nicht der Reformation zu, sondern blieb wie das Dominikanerkloster in der Brüderstraße auch katholisch. Da beide Pfarrkirchen protestantisch wurden, übernahmen die beiden verbliebenen Konvente die katholische Seelsorge. Erst 1734 gab es eine Vereinbarung zwischen Fraterherren und Dominikanern, die die aus der Not geborene Lösung ordentlich regelte und zur Aufteilung des Sprengels in zwei Pfarrbezirke führte. Zur Pfarrkirche wandelte sich das Kloster erst 1810, nachdem sein Besitz säkularisiert wurde - 1803 auf dem französischen Rheinufer und 1808 auf dem rechten Rheinufer - und das Kloster selbst 1804 von Preußen aufgehoben worden war. Die ehemalige Klosteranlage blieb dadurch als nunmehrige Pfarrkirche St. Martini erhalten. Klostergebäude samt Pfarrkirche sanken am Ende des Zweiten Weltkrieges in Trümmern. Die neue Pfarrkirche wurde nicht wieder an alter Stelle, sondern eine Straße weiter nördlich (heute Martinistraße) auf den Grundmauern einer ehemaligen Reithalle errichtet. Auf dem ehemaligen, umgelegten Grundstück an der Ritterstraße fand das früher am Brüner-Tor-Platz untergebrachte Städtische Mädchengymnasium, mittlerweile Andreas-Vesalius-Gymnasium, eine neue Heimat.
(Autor: Dr. Martin Wilhelm Roelen)