In Zeiten sich häufender antisemitischer Anschläge in Deutschland – zuletzt der Brandanschlag auf die Synagoge in Ulm im Juni 2021 oder die schwere Körperverletzung eines 18-jährigen Juden in Köln Ende August 2021 – ist es von großer Wichtigkeit, auch die Wurzeln des europäischen Antisemitismus zu verstehen. Nur so kann man dieser aktuellen Bedrohung u. a. durch Bildungsarbeit im offenen Diskurs begegnen.
Die Wurzeln des Antisemitismus lagen in der Gegnerschaft des frühen Christentums zum Judentum begründet, was sich z. B. am verhängnisvollen Vorwurf, die Juden seien für die Kreuzigung Christi verantwortlich, äußerte. Mit der voranschreitenden Christianisierung Europas einher ging die Verbreitung entsprechender antijüdischer Stereotype, wozu vor allem die Bilder vom „Gottesmörder“ und vom „Wucherer“ gehörten.
Ausdruck fanden diese folgenschweren Tendenzen auch in den Edikten der Stadt Wesel. Durch obrigkeitliche Verordnungen wurde in der Hansestadt praktisch alles von der Wahl des Magistrats selbst bis zur Straßenreinigung und Müllabfuhr bestimmt. Ein Beispiel für ein antijüdisches Edikt ist die am 7. September 1401 erlassene Verordnung, dat den joeden nymant husinghe doen ensal noch ghelt tgheghen oen wynnen. Es geht dabei darum, dass niemand, der „in unserer Freiheit wohnt“, den Juden Unterkunft gewähren durfte. Das schloss auch das Verbot ein, Häuser, Wohnungen oder gar Kammern (husinghe, cameren noch wonynghe) an Juden zu verkaufen oder zu vermieten. Im zweiten Abschnitt wurden alle Geldgeschäfte mit Juden strikt verboten. Das umfasste auch das Verbot, dass sich kein Weseler für Juden verbürgen und dass keinem Juden Pfand gegeben werden durfte.
Genau festgelegt waren auch entsprechende Strafen gegen das Edikt. Vorgesehen war, jeden Fall einer Zuwiderhandlung mit fünf Mark zu bestrafen. Eine Denunziation war offensichtlich erwünscht, denn jeder, der „eine heimliche Verbindung zu den Juden“ beim Bürgermeister, den Schöffen oder dem Rat meldete, sollte dafür eine Mark als Belohnung erhalten.
Das Edikt ist ein typisches Beispiel für mittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Antijudaismus in Europa, das hier zumindest ein verbreitetes Stereotyp aufgreift. Dieses konkrete Edikt ist aber weniger von übergeordneten Interessen getragen worden, sondern hatte eine ganz konkrete innerstädtische Ursache. Zwar gab es spätestens seit 1266 jüdische Einwohner und Einwohnerinnen in Wesel, diese fielen jedoch überwiegend den Judenverfolgungen der Pestjahre 1349/1350 zum Opfer. Für das Edikt von 1401 war demnach der seit Ende des 14. Jahrhunderts in Wesel wohnende und aus Köln zugezogene Jude Selichman zumindest mittelbar der Auslöser. Dieser hatte am 10. November 1393 als einer von nur zwei Juden im Mittelalter die Bürgerrechte in Wesel erhalten, allerdings nur unter strengen Auflagen. Dazu gehörte die auffallend hohe jährliche Abgabe von acht Gulden ebenso wie die Verpflichtung zum Wachen, Graben und Pferdehalten. Die Weseler Stadtrechnungen dokumentieren weitere hohe Abgaben des Selichman, sodass die Vermutung naheliegt, dass dieser nur aufgrund seines außergewöhnlichen Reichtums überhaupt Bürger werden konnte.
Selichmann geriet dann aber zunächst mit seinem noch in Köln lebenden Schwager in einen heftigen Streit um ein gemeinsames Erbe. Nachdem Selichman auch noch die Rückzahlung geliehener Gelder von der Stadt Köln anmahnte, eskalierte im März 1401 der Streit aber, sodass der Kölner Magistrat sich an die Stadt Wesel wandte und ultimativ forderte, dem Selichman den Aufenthalt in Wesel zu verbieten. Der Magistrat der Stadt Wesel musste dem nachgeben und erließ darüber hinaus im September dann gar das allgemeingültige Edikt.
Im Wesel der Gegenwart setzt die Stadtverwaltung gemeinsam mit verschiedenen Akteurinnen und Akteuren deutliche Zeichen gegen Rassismus, gegen rechten Nationalismus und für eine sensible Aufarbeitung der Shoa. Gedenktage, die von der gesamten Stadtgesellschaft getragen werden, sind fester Bestandteil im Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger Wesels. Dazu gehört vor allem die Gedenkveranstaltung zur Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar 1945, die in Wesel als Gedenktag an den Holocaust im öffentliche Bewusstsein fest verankert ist. Auch die gemeinsam mit dem Jüdisch-Christlichen-Freundeskreis Wesel organisierte Gedenkveranstaltung zur Reichspogromnacht am 9. November ist fester Bestandteil im Jahreskalender. Neben den im gesamten Stadtgebiet sichtbaren Stolpersteinen bietet eine im Rahmen des Beitritts der Stadt zum Riga-Komitee – die meisten Weseler Juden sind auf heute lettischem Gebiet ermordet worden – geschaffene Haushaltsstelle die Möglichkeit, Bildungsarbeit an Schulen durch Fahrten zu Gedenkstätten insbesondere der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zu fördern.
Das Vorgehen gegen Rassismus und Antisemitismus ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung, die gerade auf kommunaler Ebene ein abgestimmtes Handeln aller Beteiligten erfordert. Hier geht die Stadt Wesel als Vorbild voran.
(Autor: Dr. Heiko Suhr)