Die wohl bedeutendste soziale Stiftung Wesels aus dem 16. Jahrhundert ist das später reformierte bzw. evangelische Waisenhaus. In ihm sollten ausschließlich Bürgerkinder untergebracht werden, deren beide Elternteile verstorben waren. Die Stiftung selbst wurde 1576 ins Leben gerufen, 21 Jahre nachdem der Weseler Bürger Dietrich van Jokeren einen namhaften Betrag für die Waisen gestiftet hatte.
Durch die aus zahlreichen großzügigen Spenden aufgestockten Stiftungsmittel und Kollekten finanzierte sich die Einrichtung, in der 1577 bereits 14 Kinder untergebracht waren. Diese mussten im Rahmen ihrer Möglichkeiten bei Handwerkern mitarbeiten. Seit 1620 wurden sie von einem eigenen Lehrer im Hause selbst unterrichtet. 1723 lebten im Heim noch 33 Kinder; ihre Zahl nahm jedoch stark ab, so dass schließlich die Aufnahmebedingungen gelockert wurden und die Zahl der Insassen anstieg.
Das Waisenhaus war anfangs in zwei nebeneinanderstehenden Häusern auf der Hohen Straße gegenüber der Mathenakirche untergebracht. Den für soziale Einrichtungen ungewöhnlichen Standort an einer Prinzipalstraße wechselte es 1599 in das Schwesternhaus Mariengarten. 13 Jahre später musste es dem Gymnasium weichen und bezog für mehr als zweieinhalb Jahrhunderte den Alten Konvent in der Brüderstraße. 1876 erfolgte der Umzug in die Feldstraße und 1906 in einen Neubau am Herzogenring.
1811 wurde die Stiftung mit dem Kontubernium, einer Einrichtung zur Ausbildung von armen Schülern zu Elementarlehrern, zusammengelegt. Als Folge zogen die Insassen des Kontuberniums ins Waisenhaus; zu ihnen gehörte auch von 1838 bis 1846 als Stipendiat des Gymnasiums der berühmte Konrad Duden. Die Stiftung überstand alle Unbilden der Zeit, war jedoch nicht in der Lage, das erforderliche neue Kinderheim zu tragen und wurde am 18. Dezember 1961 in einen Verein, Evangelisches Kinderheim Wesel e.V., umgewandelt.
Das alte Waisenhaus am Herzogenring genügte in den 1950er Jahren nicht mehr den Anforderungen an ein modernes Kinderheim. Es war stets überbelegt und durfte nur 30 Kinder aufnehmen. Nach längeren Planungen wurde im Juli 1965 am Sophienweg ein großzügiges neues Kinderheim für maximal 90 Kinder nach den Plänen des bekannten Architekten Karl Sander aus Bedburg/Erft errichtet, so dass man familiengerechte Gruppen bilden konnte. Finanziert wurde der eine Fläche von insgesamt 1230 qm einnehmende zweistöckige Bau zur Hälfte durch ein Landesdarlehen, aus Mitteln des Grenzlandfonds, des Kreises Rees und der Stadt Wesel sowie mittels Eigenleistung des Betreibers. Gedacht war das Heim ursprünglich für ganz oder halb verwaiste sowie gefährdete oder erziehungs- und pflegebedürftige Kinder evangelischen Glaubens; tatsächlich wurden später auch Kinder anderer Konfession aufgenommen. Die Grundsteinlegung erfolgte am 24. September 1965 und am 22. Juli des darauffolgenden Jahres konnte das Richtfest gefeiert werden. Feierlich übergeben wurde das neue Heim am 3. Februar 1968. Das moderne, helle und kindgerecht ausgestattete Gebäude kostete insgesamt 2,3 Millionen DM - anstatt der ursprünglich geplanten 1,9 Millionen DM. Bewohnt wurde es bei der Einweihung von 47 Kindern, die in Gruppen zu je 16 betreut werden.
Heute ist das Kinderheim an der Sophienstraße eine von zahlreichen sozialen Einrichtungen des Evangelischen Kinderheim Wesel e.V., die nicht nur in Wesel, sondern auch andernorts am Niederrhein zu finden sind.
(Autor: Dr. Martin Wilhelm Roelen)