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Stichtag: 02. November 1974 - Einweihung des neuen Rathauses

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Städtische Rathäuser gibt es in Wesel seit etwa 1390. Im Mittelalter waren es prächtige Bauwerke, die vom Selbstverständnis der Bürger zeugten. Solche repräsentativen Bauten gab es nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr, da zunehmend schmucklose Zweckbauten für reine Verwaltungsbelange gefragt waren.

Das Mathena-Rathaus ist Ausdruck genau jener eher strengen Geisteshaltung, auch wenn Stadtdirektor Dr. Reuber pathetisch anmerkte, dass das erste Nachkriegsrathaus für ihn auch die „fruchtbare Keimzelle“ sei, die „innerhalb seines weiten Bannkreises den Wiederaufbau entscheidend beleben und dabei gleichzeitig das städtebauliche Gesicht, seiner eigenen Architektur angleichend, formen wird.“

Das Hauptproblem dieses Rathauses war neben der langfristig zu kleinen Größe vor allem die ausgesprochen lukrative Lage. Als Vertreter der Warenhauskette Kaufhof 1970 der Stadt Wesel anboten, sechstausend Quadratmeter Einkaufsfläche zur Verfügung zu stellen, konnte man nicht nein sagen, denn zu groß waren die städtischen Mühen, Wesel wieder zu dem Einkaufszentrum am Niederrhein werden zu lassen. Zudem war die Stadtverwaltung sowieso schon seit 1960 bemüht, Diensträume auch außerhalb des eigenen Rathauses anzumieten, denn vor allem die von Reuber vorangetriebene kommunale Neugliederung – mit der Eingemeindung von Obrighoven-Lackhausen und Flüren im Juli 1969 – hatte viele zusätzliche Verwaltungsangestellte zur Folge. Somit war zumindest ein größerer Umbau des bestehenden Rathauses sowieso unausweichlich. Das Angebot von Kaufhof wirkte auf diese Pläne wie ein Katalysator, beschleunigte diesen Prozess rapide und lenkte ihn in eine völlig neue Richtung.

Am 16. Juni 1970 beschloss der Rat der Stadt Wesel in geheimer Sitzung, das alte Rathaus abzubrechen und das freiwerdende Grundstück nebst dem großen Parkplatz an Kaufhof zu veräußern. Reuber bewertete diese Entscheidung, die er vehement bekämpft hatte, als das „schwärzeste Kapitel“ seiner Amtszeit. Unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten war die Entscheidung aber nicht nur sinnvoll, sondern vor allem notwendig. Im März 1971 räumte die Stadtverwaltung – ohne Ersatz zu haben – das Mathena-Rathaus und musste für mehr als drei Jahre mit einem Provisorium leben. Das Hauptverwaltungsgebäude der Stadtverwaltung wurde ab dem 1. April 1971 in einem dreigeschossigen Neubau an der Dinslakener Landstraße 24–26 untergebracht. Hier saßen u.a. das Haupt- und Personalamt sowie das Einwohnermeldeamt. Im Herzogenring 16 fanden das Sozialamt und die Schulverwaltung ihr neues Quartier. Am 22. Juni 1972 konnte dann an der Stelle des alten Rathauses der Kaufhof erstmals seine Türen öffnen.

Ab Juli 1970 begannen die Pläne für den Neubau des Rathauses. Karl Heinz Reuber fasste in einem Aktenvermerk die generellen Anforderungen aus seiner Sicht zusammen und betonte, dass der Neubau zwar ein Zweckbau werden solle und daher auf „Elemente der Repräsentation“ zu verzichten sei, aber dass das neue Rathaus dann doch „die Eigenart der Stadt“ widerspiegeln müsse. Die Planungen zeigen dann auch deutlich, dass auf vorsichtige Zurückhaltung verzichtet und stattdessen viel eher geklotzt wurde. Das Architekturbüro Hentrich-Petschnigg & Partner plante einen Neubau, der bei Bedarf problemlos so zu erweitern war, um einer Stadt mit 100.000 Einwohnern zu genügen.

Sechs Standorte für das neue Rathaus wurden geprüft. Neben der letztlich gewählten Fläche standen die Stadtrampe zwischen Ringstraße und Rheinaue (76.000 qm) – allerdings nur in Kombination mit der Kreisverwaltung – sowie die Grünflächen des Heubergparks inklusive Kasino (13.000 qm) zur Diskussion. Nach einem Gutachterwettbewerb fiel die Entscheidung in einer der letzten Ratssitzung im Mathena-Rathaus am 18. März 1971 auf den Klever-Tor-Platz. Hinter dieser Entscheidung standen nicht nur der dort verfügbare Platz, sondern auch die Absicht – zusammen mit dem ebenfalls geplanten Bildungszentrum (Volkshochschule), dem bereits bestehenden städtischen Bühnenhaus sowie mit einem kleinen Kaufhaus –, ein neues städtebauliches Zentrum am Kornmarkt zu verwirklichen.

Nach einer Intervention des Düsseldorfer Regierungspräsidenten im Juli 1972 und der Androhung, die benötigten Landesmittel zu stoppen, wurden die Dimensionen des Rathaus-Neubaus aber erheblich reduziert. Die vorgesehenen Büroflächen wurden von rund 4.800 auf etwa 2.500 Quadratmeter verringert. Die Bauarbeiten begannen mit einer Ausschachtungsgenehmigung am 9. August 1972. Da die vollständige Baugenehmigung erst am 18. Dezember 1972 vorlag, konnte der Rohbau erst Ende 1973 fertiggestellt werden.

Die tatsächliche Nutzung des neuen Rathauses begann mit dem Umzug der Verwaltung im September 1974 und wurde offiziell mit der feierlichen Einweihung am 2. November 1974. Das benachbarte neue Bildungszentrum wurde am 2. Januar 1975 für die Bürgerinnen und Bürger eröffnet. Beide Bauprojekte kosteten insgesamt gut 25 Millionen Mark, wovon fast 16 Millionen Mark auf das Rathaus entfielen.

Im Mittelpunkt des neuen Rathaus-Komplexes liegt mit dem Ratssaal ein besonderer Gebäudeteil, der baulich sichtbar hervorgehoben wurde. Dieser Teil wurde als geometrisches Achteck konzipiert und soll – so die Intention der Architekten – damit in alle Richtungen ausstrahlen. Sinnbildlich wirken die Entscheidungen des Rates in alle Himmelsrichtungen und treffen damit alle Bewohner der Stadt, womit unterstrichen werden soll, dass die Verwaltung für und im Sinne der Weseler arbeitet.

Erst knapp zwanzig Jahre später sollte sich durch den Anbau das Bild der städtischen Verwaltung wieder ändern. Nach wie vor prägt das Ensemble aus Rathaus, Volkshochschule, Bühnenhaus und Städtischem Museum das Bild der Stadt Wesel – weniger durch das eigentlich erstrebte Etablieren eines neuen Stadtzentrums, dafür vielmehr im übertragenen Sinne durch richtungsweisende Entscheide, ein breites Bildungsangebot und durch Vermittlung von Kunst und Kultur.

 

(Autor: Dr. Heiko Suhr)