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Die Weseler Eisenbahnbrücke

Die Weseler Eisenbahnbrücke war bis 1913 die längste Rheinbrücke Deutschlands

Schon bald nach der ersten Eisenbahnfahrt in der preußischen Rheinprovinz zwischen Düsseldorf und Erkrath im Dezember 1838 hatte sich das neue Transportmittel etabliert. Die meisten Strecken verliefen aber in Nord-Süd-Richtung, da der Rhein als nahezu unüberwindbares Hindernis galt. So wurde erst 1859 in Köln die erste Eisenbahnbrücke über den Rhein errichtet. An vielen anderen Orten wurden die Waggons auf speziellen Fähren über den Fluss gesetzt. Allerdings war diese Methode zeitaufwendig und witterungsbedingt (Nebel, Strömung, Hochwasser) unzuverlässig, sodass mit zunehmendem Warenverkehr der Wunsch nach festen Eisenbahnbrücken über den Rhein stärker wurde. Auch die Stadt Wesel versprach sich von einer Eisenbahnbrücke einen wirtschaftlichen Aufschwung.

Allgemein bot der Niederrhein für den Brückenbau keine idealen Bedingungen, da nicht nur der Rhein, sondern auch das Hochwassergebiet zu beiden Ufern überbrückt werden musste. Eine noch viel größere Schwierigkeit ergab sich aus dem großen Einfluss militärischer Entscheidungsträger. Aus dem Blickwinkel der Landesverteidigung galt es, feste Brücken durch Forts zu sichern. Ein Rheinübergang am Niederrhein konnte daher nur bei der Festungsstadt Wesel erfolgen, sodass die von der Cöln-Mindener-Eisenbahn (CME) geplante Rheinbrücke in Ruhrort – wo es schon eine Rheinfähre gab – nicht in Frage kam.  Am 28. Mai 1866 erhielt diese private Eisenbahngesellschaft die ersehnte Konzession für die Fernverkehrsstrecke von Venlo über Haltern und Wesel nach Osnabrück. Nach der preußischen Annexion Hannovers 1866 wurde die Konzession bis nach Hamburg verlängert. Dieses Jahr steht damit auch für den Beginn Wesels als Eisenbahnknotenpunkt.

Es galt nun, die verschiedenen Interessen von privatwirtschaftlicher Eisenbahngesellschaft, der Stadt Wesel und der preußischen Militärverwaltung auszutarieren. 1868 fiel die Entscheidung, die Eisenbahnbrücke etwa 1.500 Meter stromabwärts von Fort Blücher zu errichten und die Bahnverbindung nördlich des Stadtgebietes in Richtung Brüner Tor verlaufen zu lassen ohne einen neuen Bahnhof zu errichten.

Der Deutsch-Französische Krieg 1870/1871 bremste das Projekt dann völlig aus, vor allem als nach der Schlacht von Sedan Anfang September 1870 20.000 französische Kriegsgefangene in Wesel ankamen. Etwa viertausend Mann mussten in Zelten auf dem Römerwardt untergebracht werden, wodurch der vorgesehene rechtsrheinische Werkplatz für den Brückenbau belegt war. Auch die ortsansässigen Handwerker waren nun zunächst mit dem Bau von Behelfsunterkünften für die Gefangenen beschäftigt.

Der genaue Beginn des Brückenbaus ist auch aufgrund der Kriegsfolgen nicht bekannt. Unterschiedliche Quellen nennen drei mögliche Daten zwischen Januar und Mai 1871. Wahrscheinlich begannen die Vorarbeiten zum Brückenbau auf dem Römerward kurz vor dem 12. Mai 1871, denn zu diesem Zeitpunkt meldete die Lokalpresse das Hissen einer Flagge als Zeichen des Baubeginns.

Während des Baus sind etwa 2,5 Millionen Ziegelsteine und allein für den Oberbau 2.500 Tonnen Schmiedeeisen sowie 36 Tonnen Gussstahl verarbeitet worden. Außerdem mussten die Auflagen der Militärs erfüllt und an jedem Uferpfeiler fortifikatorische Anlagen errichtet werden. So gab es vier bombensichere Türme von knapp sieben Meter Höhe. Die eigentliche Strombrücke maß knapp über vierhundert Meter in der Länge; dazu kamen die gemauerten Vorlandbrücken mit einer Länge von gut 770 Metern (linksrheinisch) bzw. knapp 770 Metern (rechtsrheinisch).

Am 8. Dezember 1874 wurde nach gut dreieinhalbjähriger Bauzeit die Eisenbahnbrücke feierlich eröffnet. Am Silvestertag 1874 nahm die Bahn den Verkehr auf der Strecke Venlo–Wesel–Hamburg offiziell auf. Damit war eine direkte Fernverbindung von Paris nach Hamburg möglich. Auch die seit dem 1. Juli 1878 betriebene Schnellzugverbindung von London über Berlin nach St. Petersburg hatte durch die Eisenbahnbrücke in Wesel großen Erfolg. Ausgangspunkt in Wesel war der alte Bahnhof, der 1874 zu einem Inselbahnhof ausgebaut worden war, sodass der Zugang zum Bahnhofsgebäude nun über den zwischen den Gleisen liegenden Bahnhofsvorplatz erfolgte.

Da die Eisenbahnbetreiber die enormen Baukosten von gut sechs Millionen Mark in Form eines Brückenzuschlages auf die Fahrkosten umlegten, lohnte es sich z.B. für die linksrheinischen Landwirte nicht, ihre Produkte per Bahn auf die andere Flussseite zu transportieren. Die eigentliche Bedeutung der Eisenbahnbrücke lag im Bereich des Fernverkehrs, sodass die neue Brücke für die Weseler Wirtschaft nahezu keinen spürbaren Effekt hatte.

Die preußischen Militärs nutzten die neue Verbindung allerdings intensiv. Über die Eisenbahnbrücke war nicht nur eine effektivere Versorgung der Garnison möglich, sondern auch die wesentlich einfachere Organisation großer Manöver. Während des Ersten Weltkrieges wurde die Eisenbahnbrücke intensiv militärisch genutzt. Durchschnittlich passierten hier zwanzig Militärzüge pro Tag den Rhein. Nach Kriegsende 1918 sollte die Eisenbahnbrücke zerstört werden, was aber nach niederländischen Protesten ausblieb. Dennoch blieb während der Zeit der Besetzung Wesels von 1919 bis 1924 der Brückenverkehr stark eingeschränkt. Die Fernverbindungen lagen auch nach 1924 still, sodass nur noch Nebenstrecken über Wesel führten. Der wirtschaftliche Niedergang der Stadt in den Weimarer Jahren war unausweichlich.

Ende 1925 wurde die Sanierung der baufälligen Eisenbahnbrücke beschlossen, die für zwei Lokomotiven mit je 32 Tonnen Gewicht ausgelegt war und damit schon bald nach Fertigstellung als massiv überbelastet galt. Zwischen 1926 und 1927 wurde im laufenden Betrieb ein neues und wesentlich belastbareres Fachwerksystem mit Rautenträgern und parallelem Ober- und Untergurt installiert. Die insgesamt gut viertausend Tonnen schwere Konstruktion ist in mehreren Teilen zwischen Juli und September 1927 auf Kähnen, die über Ballasttanks angehoben werden konnten, in die Brücke eingebaut worden. Der erhoffte wirtschaftliche Aufschwung hat sich allerdings abermals nicht erfüllt.

Bald nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges im September 1939 rüstete eine Weseler Firma die Brücke mit Eichenbohlen so um, dass sie nicht nur von Zügen, sondern auch von Straßenfahrzeugen befahren werden konnte. Noch im Herbst 1944 ist die Eisenbahnbrücke viel befahren worden, u.a. von Soldaten auf dem Weg an die Westfront, von Zwangsarbeitern zu Schanzarbeiten am Westwall und auch von einst evakuierten Müttern und Kindern, die nun aus den Niederlanden zurück nach Wesel kamen.

Seit der Landung der Alliierten in der Normandie und nach dem Scheitern ihrer Luftlande-Operation bei Arnheim (Market Garden) rückte die Kriegsfront unabänderlich auf das niederrheinische Grenzgebiet zu. Wesel war im Februar 1945 das Ziel verheerender Luftangriffe der Alliierten. Nach der Zerstörung der Straßembrücke, der Rheinbabenbrücke, am 14. Februar 1945 war die Eisenbahnbrücke die einzige Verbindung über den Rhein am gesamten Niederrhein. Anfang März waren die deutschen Verteidiger hier in einer hoffnungslosen Lage, denn von allen Seiten griffen Briten, Kanadier und Amerikaner an. Die Verteidiger standen mit dem Rücken zum Rhein. Am 10. März 1945 zogen sich die deutschen Einheiten komplett über den Fluss zurück und sprengten mit der Weseler Eisenbahnbrücke die letzte intakte Verbindung über den Fluss.

Seit 1950 bemühte sich die Stadt Wesel um den Wiederaufbau der Eisenbahnbrücke, um wieder einmal den Handel über eine verbesserte Infrakstruktur zu beleben. Das Projekt blieb über mehrere Jahre in der Schwebe und verhinderte so im Bereich der nördlich des Stadtzentrums gelegenen geplanten Streckenführung vom Weseler Bahnhof zur Eisenbahnbrücke die gesamte Stadtentwicklung. Im August 1952 wurde gar verfügt, dass in der Feldmark keine Baugenehmigung mehr erteilt werden dürfe bis zur Entscheidung im Fall der Eisenbahnbrücke. Nachdem die Deutsche Bundesbahn die Verhandlungen lange verzögert hatte, entschieden sich die Weseler Stadtvertreter erst Ende der 1950er Jahre gegen den Neubau. Weitere Versuche zur Wiedererrichtung der Brücke gab es bis Ende der 1960er Jahre. All diese Versuche scheiterten, sodass der erste Landpfeiler auf der rechten Rheinseite mit dem Grundstein von 1871 heute als Aussichtsplattform dient. Andere Brückenbögen werden heute u.a. als Hangar für Segelflugzeuge oder als Gaststätte genutzt.

Die noch vorhandenen Fragmente auf der linken Rheinseite sind in ein Naturschutzgebiet integriert. Von hier eröffnet sich ein imposanter Blick auf die andere Rheinseite mit dem deutlich erkennbaren Willibrordi-Dom, dem bekannten Wasserturm und vor allem der markanten 2009 für den Verkehr freigegebenen Niederrheinbrücke.