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Stichtag: 12. Mai 1871 - Baubeginn der Eisenbahnbrücke

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Schon bald nach der ersten Eisenbahnfahrt in der preußischen Rheinprovinz zwischen Düsseldorf und Erkrath am 20. Dezember 1838 hatte sich das neue Transportmittel etabliert. Da aber der Rhein als nahezu unüberwindbares Hindernis galt, verliefen die meisten Strecken in Nord-Süd-Richtung. Erst 1859 wurde in Köln die erste Eisenbahnbrücke über den Rhein errichtet.

Der Niederrhein bot für den Brückenbau keine idealen Bedingungen, da nicht nur der Rhein, sondern auch das Hochwassergebiet zu beiden Ufern überbrückt werden musste. Eine noch viel größere Schwierigkeit ergab sich aus dem großen Einfluss militärischer Entscheidungsträger. Aus dem Blickwinkel der Landesverteidigung galt es, feste Brücken durch Forts zu sichern. Ein Rheinübergang am Niederrhein konnte daher nur bei der Festungsstadt Wesel erfolgen, sodass die von der Cöln-Mindener-Eisenbahn (CME) geplante Rheinbrücke in Ruhrort nicht in Frage kam. Am 28. Mai 1866 erhielt diese private Eisenbahngesellschaft die ersehnte Konzession für die Fernverkehrsstrecke von Venlo über Haltern und Wesel nach Osnabrück. Nach der preußischen Annexion Hannovers 1866 wurde die Konzession bis nach Hamburg verlängert.

Es galt nun, die verschiedenen Interessen von privatwirtschaftlicher Eisenbahngesellschaft, der Stadt Wesel und der preußischen Militärverwaltung auszutarieren. So wurde erst 1868 entschieden, die Eisenbahnbrücke gut einen Kilometer stromabwärts von Fort Blücher zu errichten und die Bahnverbindung nördlich des Stadtgebietes in Richtung Brüner Tor verlaufen zu lassen.

Der Deutsch-Französische Krieg 1870/1871 bremste das Projekt dann zunächst aus, vor allem als nach der Schlacht von Sedan Anfang September 1870 20.000 französische Kriegsgefangene in Wesel ankamen. Etwa viertausend Mann mussten in Zelten auf dem Römerwardt untergebracht werden, wodurch der vorgesehene rechtsrheinische Werkplatz für den Brückenbau belegt war.

Am 15. Mai 1871 konnte die Rhein- und Ruhrzeitung dann aber stolz vermelden, dass der „längst ersehnte Augenblick“ des Baubeginns der Eisenbahnbrücke gekommen war. Am 12. Mai habe eine „aufgehisste Flagge“ das für „die Zukunft unserer Stadt auf alle Fälle bedeutungsvolle Ereignis“ kundgetan. Auf dem Römerwardt habe man mit „kriegsministerieller Genehmigung“ mit den vorbereitenden Bauten begonnen. Dazu gehörten zunächst die Wasserleitungen zur Speisung der Mörtelmühlen und ein Hebekran.

Der Bau der eigentlichen Brücke sollte aufgrund des harten Winters 1871/1872 und fehlender Baugenehmigungen erst im nächsten Jahr beginnen. Allein für den eisernen Überbau sind insgesamt 2.500 Tonnen Schmiedeeisen und 36 Tonnen Gussstahl verarbeitet worden. Die von einer Magdeburger Firma vormontierten Teile sind per Schiff und Bahn aus Oberhausen nach Wesel gebracht worden. Bereits Anfang 1872 wurden 2,5 Millionen Ziegelsteine und große Mengen Kalk für die Vorlandbrücken geliefert. Die gesamte Logistik war dabei im Detail geplant worden; so waren durchgehend drei Schlepp- bzw. Dampfboote auf dem Rhein damit beschäftigt, den normalen Schiffsverkehr durch die Baustelle zu navigieren und die angelieferten Baumaterialien zu verteilen. Außerdem mussten die Auflagen des Militärs erfüllt und an jedem Uferpfeiler fortifikatorische Anlagen errichtet werden. So gab es vier bombensichere Türme von knapp sieben Meter Höhe. Auch wurde eine Sprengkammer in einem der Strompfeiler eingebaut. Die enormen Gesamtkosten von fast sechs Millionen Mark legte die CME zumindest teilweise auf die Ticketpreise um.

Am 8. Dezember 1874 wurde nach gut dreieinhalbjähriger Bauzeit die Eisenbahnbrücke feierlich eröffnet. Am Silvestertag 1874 nahm die Bahn den Verkehr auf der Strecke Venlo–Wesel–Hamburg offiziell auf. Damit war eine direkte Fernverbindung von Paris nach Hamburg möglich. Auch die seit dem 1. Juli 1878 betriebene Schnellzugverbindung von London über Berlin nach St. Petersburg hatte durch die Eisenbahnbrücke in Wesel großen Erfolg. Ausgangspunkt in Wesel war der alte Bahnhof, der 1874 zu einem Inselbahnhof ausgebaut worden war, sodass der Zugang zum Bahnhofsgebäude nun über den zwischen den Gleisen liegenden Bahnhofsvorplatz erfolgte.

Nach einer intensiven Nutzung der Eisenbahnbrücke im Ersten Weltkrieg – durchschnittlich passierten zwanzig Militärzüge pro Tag den Rhein – blieb während der Zeit der Besetzung Wesels von 1919 bis 1924 der Brückenverkehr stark eingeschränkt. Die Fernverbindungen lagen auch nach 1924 still, sodass nur noch Nebenstrecken über Wesel führten. Der wirtschaftliche Niedergang der Stadt in den Weimarer Jahren war unausweichlich.

Ende 1925 wurde die Sanierung der baufälligen Eisenbahnbrücke beschlossen. Zwischen 1926 und 1927 ist im laufenden Betrieb ein neues und wesentlich belastbareres Fachwerksystem installiert worden. Der erhoffte wirtschaftliche Aufschwung hat sich allerdings abermals nicht erfüllt. Als sich am 10. März 1945 kurz vor Kriegsende die letzten deutschen Einheiten komplett über den Rhein zurückgezogen hatten, wurde mit der Weseler Eisenbahnbrücke die letzte intakte Verbindung über den Fluss gesprengt.

Da in den 1950er und 1960er Jahren alle Versuche des Wiederaufbaus scheiterten, wurde auf den rechtsrheinischen Landpfeilern mit dem Grundstein von 1871 eine beliebte Aussichtsplattform eingerichtet. Andere Brückenbögen werden u.a. als Hangar für Segelflugzeuge oder als Gaststätte genutzt. Die noch vorhandenen Fragmente auf der linken Rheinseite sind in ein Naturschutzgebiet integriert.

 

(Autor: Dr. Heiko Suhr)